Ich möchte mich dieser Kollegen-Schelte aber nicht anschliessen, sondern die grundlegendere Frage stellen: Ist dieses Verhalten heute nicht eigentlich typisch für die Medizin? Je nach Fachgebiet gibt es Expertinnen und Experten, Expertisen und Studien, um eine medizinische Lage richtig einzuschätzen. Unter Umständen sind mit den daraus folgenden Handlungen aber Kosten verbunden, sehr hohe Kosten in der Situation einer Pandemie, von der Gemeinschaft zu berappen, auch Einzelschicksale pekuniärer Not. Folglich regt sich Widerstand aus Ökonomie und Politik. Andere Einschätzungen der Lage werden vorgebracht, und es wird Druck auf die Medizin ausgeübt. Und dann findet man innerhalb der Medizin leider immer jemanden, die oder der bereit ist, die Einschätzung der klinisch-medizinischen Situation dahingehend zurechtzubiegen, dass sie sich ökonomischen Einschätzungen annähert. Das ist in der Pandemie passiert, doch wir haben es davor schon beobachtet, so etwa in primärmedizinischen Fragestellungen. Das Problem dabei: Wenn sich die Ökonomie verschätzt und in der Folge Patientinnen und Patienten zu Schaden kommen, ist die Medizin schuld, nicht die Ökonomie.
Gehen wir von der Mikroebene auf die Makroebene unseres Gesundheitswesens und betrachten wir ein besonders krasses Beispiel für obiges Fehlverhalten der Medizin: Wie das BAG in seinem
jüngsten HTA-Bericht zu Statinen in der Primärprävention festhält, sind diese mit minus 3'000 Franken pro gewonnenem Lebensjahr in guter Lebensqualität äusserst kosteneffektiv. Dies ist keine überraschende Erkenntnis, vielmehr entspricht es dem internationalen Wissensstand. Überraschend hingegen war die Einschätzung der Situation, welche das
Swiss Medical Board im November 2013 publiziert hat: Es schätzte die Kosten pro gewonnenem Lebensjahr in guter Lebensqualität auf plus 210'000 Franken ein, ein Unterschied der Kosten pro QALY von 213'000 Franken für das gleiche Risiko. Es war von Anfang an klar, dass die Einschätzung des Swiss Medical Boards mit klinisch- medizinischer Evidenz in keiner Weise korrelierte. Die Kalkulation war also komplett aus der Luft gegriffen, und sie zeigt, dass QALY als
politisches Lenkinstrument missbraucht werden können. Der Skandal-Betrag von 210'000 Fr. wurde in der Folge aber jahrelang auch innerhalb der Medizin selbst herumgereicht, um Patientinnen und Patienten eine nötige Therapie zu verweigern, was sie dem Risiko von Herzinfarkt, Hirnschlag und Demenz ausgesetzt hat. Die Schuld an diesen vermeidbaren Krankheits- und Todesfällen tragen jedoch nicht die falsch rechnenden Ökonominnen und Ökonomen, sondern die Medizinerinnen und Mediziner, die klinisch-medizinische Evidenz verleugnet haben, um sich Ersteren opportunistisch anzudienen.
Dabei sind gerade in der Medizin die Voraussetzungen für evidenzbasiertes Handeln gut, weil institutionalisiert. Die Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften richten sich nach einer internationalen Klassifizierung: Class I (is indicated), Class IIa (should be considered), Class IIb (may be considered), Class III (ist not recommended). Bezüglich Pandemie bedeutet dies: Die Diskussion um die Zweckmässigkeit von Masken ist auf dieser Basis klar: Wir haben hier einen Evidenzgrad Class IIb vorliegen, sie wären also in Erwägung zu ziehen. Dies haben sich die «Querdenker» aber zu einem Evidenzgrad Class III umgedacht und behaupten, Masken würden nichts bringen oder gar schaden. Dieser faktenfreien Behauptung haben sich auch einige Medizinerinnen und Mediziner angeschlossen. Damit sind sie zwar populär, denn niemand trägt gerne Schutzmaske, ebenso, wie niemand gerne Krankenkassenprämien zahlt. Sie missbrauchen aber die Autorität, die ihnen ihr Beruf verleiht, in verantwortungsloser, ethisch problematischer Weise. Dass dies auch rechtliche Folgen haben kann, werde ich weiter unten erörtern. Die Selbstverleugnung der Medizin hat inzwischen aber auch unsere Institutionen und medizinischen Regulative erfasst. Hierzu möchte ich auf die Frage der primärpräventiven Behandlung von Gefässkrankzeiten zurückkommen.
Zum Einsatz von cholesterinsenkenden Statinen in der Prävention von Herzinfarkt und Hirnschlag bei gesunden Patientinnen und Patienten und bei Patientinnen und Patienten nach Myokardinfarkt (sic!) im Alter von 75 Jahren und mehr gibt es die Empfehlungen der ESC (European Society of Cardiology). Sie werten hier den Evidenzgrad so, dass sie eine Class IIb-Empfehlung abgeben. Analog zur Maskenfrage wäre also auch diese Präventivmassnahme in Erwägung zu ziehen. Choosing Wisely schreibt in ihrer jüngsten Empfehlung allerdings: «Kein Testen und Neubehandeln von Dyslipidämien bei Personen über 75 Jahre in der Primärprävention.» Damit wird die Class-IIb-Empfehlung der ESC zu einer Class-III-Empfehlung bzw. in der Sekundärprävention die Class-I-Empfehlung der ESC zu einer Class-IIb-Empfehlung geändert. Und begründet wird dies von Choosing Wisely mit demselben Ansatz, den die «Querdenker» in der Maskenfrage fahren: Wissensfragen werden zu Meinungsfragen gemacht.
Die Methodik nämlich, welche diese «Querdenker»-Resultate begründen soll, nennt Choosing Wisely Bottom-up-Verfahren: Prof. Neuner-Jehle hat in einer Studie des Instituts für Hausarztmedizin Zürich 1’000 Schweizer Hausärztinnen und Hausärzten nach Interventionen aus der täglichen Praxis befragt, die sie für nutzlos oder sogar schädlich halten. Offenbar ist dies für die primär- und sekundärpräventive (sic!) Behandlung kardiovaskulärer Krankheiten mit Statinen bei Patientinnen und Patienten über 75 Jahren der Fall. Der richtige Schluss daraus wäre der: Über 1'000 Schweizer Hausärztinnen und Hausärzte kennen die ESC-Richtlinien nicht. Anstatt diesen Fehler zu korrigieren, wird er mit dem Vorgehen, die allgemeine Meinung zur Empfehlung für die Praxis zu machen, aber gefestigt. Damit verdreht Choosing Wisely sein Ziel, Fehlbehandlungen zu korrigieren, ins Gegenteil. Das Vorgehen, falsche Meinungen und Nichtwissen nicht zu korrigieren, sondern sie in den Status von Fakten zu erheben, ist zutiefst medizinfeindlich. Denn es ist wissenschaftsfeindlich, und die Medizin ist eine Wissensdisziplin, keine Meinungsdisziplin wie etwa die Soziologie. Eine Medizin, die so vorgeht, verleugnet sich selbst und handelt ethisch problematisch.
Zu den rechtlichen Problemen: Laut einem
Gutachten, das Prof. Ueli Kieser für den VEMS erstellt hat, sind solche Empfehlungen auch als Medizinprodukte zu werten: «Wer ein Medizinprodukt in Verkehr bringt, muss nach Art. 46 Abs. 1 HMG nachweisen, dass die erforderlichen Konformitätsbewertungsverfahren durchgeführt worden sind. Art. 47 Abs. 1 HMG schreibt ein Produktebeobachtungssystem vor. Sodann legt Art. 48 HMG Regelungen zum Schutz der Gesundheit fest. Es müssen nach Art. 49 Abs. 1 HMG alle Massnahmen getroffen werden, welche für die Erhaltung der Leistung und der Sicherheit des Medizinprodukts erforderlich sind. Schliesslich gelten nach Art. 51 HMG besondere Regelungen für die Werbung.» Art. 86 und Art. 87 HMG umschreiben die strafbaren Tatbestände eindeutig. Sind sich die Verantwortlichen beim Swiss Medical Board, bei der SGAIM und bei Choosing Wisely dessen wirklich nicht bewusst? Oder werden einmal mehr die Ärztinnen und Ärzte unter moralischen Druck gesetzt, angezeigte Behandlungen zu verweigern, um Kosten zu sparen, unter Inkaufnahme, dass sie damit unter Umständen ihren gesetzlich verankerten Versorgungsauftrag brechen? Der VEMS hat die erwähnten Stakeholder jedenfalls erneut auf die potentiell strafrechtlichen Folgen ihrer Aussagen aufmerksam gemacht.
Eine weitere Problematik ist, dass beide, Choosing Wisely und das Swiss Medical Board, ihre Empfehlungen auch und proaktiv den Publikumsmedien zuspielen, manchmal sogar zuerst diesen und erst dann unseren medizinischen Fachmedien. Dadurch werden wir Medizinerinnen und Mediziner zusätzlich unter Druck gesetzt: von den Patientinnen und Patienten. Es ist bekannt, dass die erste Information, die ein Mensch zu einem Thema erhält, die stärkste Gewichtung erhält, eine Meinung, gegen die es danach viel Überzeugungsarbeit braucht. So hat auch Christian Drosten, Virologe von der Berliner Charité, in einem
Interview der Republik die falsche Balance in der Gewichtung medizinischer Informationen in der Pandemie beklagt. Und auch dieses Problem hatten wir bereits zuvor.
Um Evidenz richtig einzuordnen, gehört auch ein gewisses gesundheitsökonomisches und statistisch- mathematisches Basiswissen dazu. Dass falsch gerechnet wird, merken wir, wenn ökonomische
Einschätzungen mit der klinisch-medizinischen Evidenz nicht korrelieren. Und wenn falsch gerechnet wird, dann müssen wir nachrechnen und nicht die falschen Zahlen weiterreichen und ihnen qua unseres Berufsstands eine «Wahrheit» verleihen, die Unwahrheit ist, Fakenews. Ich habe diesen Standpunkt auch an der Veranstaltung anlässlich des 40-jährigen
Jubiläum der PSR/IPPNW vom 6. Juni dieses Jahres zu Fragen der planetaren Ethik eingebracht. Der Verein Ethik und Medizin Schweiz VEMS, den ich präsidiere, hat dazu im April dieses Jahres sein
Positionspapier zur Medizinischen Bioethik herausgegeben und zur Vertiefung sein Projekt «
Mathematik» lanciert. Ich lade die Kolleginnen und Kollegen herzlich ein, sich daran zu beteiligen. Nur so können wir uns auch hier durch die Häufung unseres Wissens auf der Einzelfallebene eine Kompetenz erarbeiten. Und nur Kraft dieser Kompetenz können wir der Gesundheitsökonomie der starke Partner sein, auf den sie zur klinischen Validierung ihrer mathematischen Annahmen angewiesen ist. Es bringt letztlich niemandem etwas, wenn sich die Medizin vor der Ökonomie duckt und selbst verleugnet und zur ethisch und rechtlich problematischen Verbreitung von Falschaussagen hinreissen lässt.
Dr. med. Michel Romanens ist Präventionsforscher und klinisch tätiger Arzt (Innere Medizin, Kardiologie und Kardioradiologie). Wissenschaftliche Arbeiten zur Kosteneffektivität in der kardiovaskulären Prävention (www.varifo.ch) und ethische Implikationen der Gesundheitsökonomie auf das Gesundheitswesen (www.vems.ch).