Mit den Spitälern Thusis, Muri, Cham und zuletzt Frutigen verlieren innerhalb kurzer Zeit mehrere Regionen ihre geburtshilflichen Abteilungen. Auch Einsiedeln und die Villa im Park Rothrist haben ihre Geburtshilfe 2024 geschlossen. Die Reaktionen reichen von Betroffenheit über Proteste bis hin zu politischen Vorstössen.
«Für uns als Verband – aber auch für mich als Hebamme – sind solche Schliessungen äusserst bedauerlich», sagt Petra Graf, Präsidentin des Schweizerischen Hebammenverbands (SHV). Sie gefährden nicht nur die regionale Versorgung, sondern auch die Ausbildung des Nachwuchses, der auf die Anbindung an Spitäler angewiesen ist – und sie kosten regionale Arbeitsplätze. Besonders problematisch sei das Tempo, etwa im Fall Frutigen: «Zwischen Ankündigung und Schliessung vergingen gerade einmal elf Tage – das ist für alle Beteiligten ein Schock.»
Auch in Muri steht die Schliessung fest: Ende 2025 soll die Geburtshilfe dort eingestellt werden. In Cham ist es bereits im Juni so weit. Offiziell werden sinkende Geburtenzahlen und der Fachkräftemangel als Hauptgründe genannt.
Petra Graf ist Präsidentin des Hebammenverbandes und Dozentin Studiengang Hebamme an der
ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Weniger Kinder, ältere Gebärende
Tatsächlich ist die Geburtenraten in der Schweiz rückläufig. Laut
aktuellen Zahlen des Bundesamtes für Statistik bekommt eine Frau im Schnitt noch 1,28 Kinder – so wenig wie nie zuvor. Gleichzeitig werden die Gebärenden im Schnitt immer älter.
Präsidentin Graf verweist deshalb auch auf strukturelle Defizite: «Die Komplexität in der Geburtshilfe nimmt zu – viele Schwangere bringen Vorerkrankungen mit oder benötigen intensive Betreuung. Die Finanzierung hat mit dieser Entwicklung nicht Schritt gehalten.»
Ein weiterer Grund, warum die Geburtshilfe für viele Spitäler wirtschaftlich unattraktiv ist, liegt in ihrer Einstufung als sogenannte Vorhalteleistung. Das bedeutet: Kliniken müssen rund um die Uhr qualifiziertes Personal und Infrastruktur bereithalten – vergütet wird jedoch nur, wenn tatsächlich eine Geburt stattfindet.
«Das ist ein eklatanter Widerspruch zwischen der Finanzierungslogik und der realen Versorgungspraxis», sagt Petra Graf.
«Eine vaginale Geburt am Termin wird deutlich schlechter vergütet als ein geplanter Kaiserschnitt.»
Im Tarifsystem sieht Graf deshalb grundlegende Schwächen: «Geduld, Zurückhaltung und die Orientierung an internationalen Leitlinien – also genau das, was gute Geburtshilfe ausmacht – werden finanziell abgestraft.» So werde etwa eine vaginale Geburt am Termin deutlich schlechter vergütet als ein geplanter Kaiserschnitt im Operationsprogramm. «Dieses Ungleichgewicht benachteiligt besonders kleinere Spitäler, die qualitativ hochwertige Geburtshilfe mit niedriger Kaiserschnittrate anbieten», so Graf.
Auch das Spital Muri verweist auf die unzureichende Tarifstruktur: Der 24-Stunden-Betrieb mit Hebammen, Ärztinnen und Pflegefachpersonen lasse sich so nicht mehr finanzieren. Gleichzeitig sei die medizinische Versorgung nicht beliebig skalierbar.
Hinzu kommt: Die Spitalplanung liegt bei den Kantonen – und wird je nach Region unterschiedlich gewichtet. In Appenzell Innerrhoden etwa gibt es seit Jahren kein Spital mit Geburtshilfe mehr.
Raus aus dem Beruf
Auch innerhalb des Berufs gerät die Geburtshilfe zunehmend unter Druck. Laut dem Bundesamt für Statistik kehren jedes Jahr rund 15 bis 20 Prozent der ausgebildeten Hebammen dem Beruf den Rücken. Die Ursachen sind vielschichtig: fehlende Planbarkeit, unregelmässige Arbeitszeiten, hohe Arbeitsbelastung und geringe Mitsprachemöglichkeiten.
Ein zentrales Qualitätsmerkmal – die Eins-zu-eins-Betreuung während der Geburt – lässt sich im Spitalalltag häufig nicht umsetzen. Viele Hebammen arbeiten in unterbesetzten Teams, sind auf Pikett, oft unzureichend entschädigt und müssen innert 30 Minuten einsatzbereit sein. «Viele Häuser halten ihre Personalpools klein, weil Geburten schwer vorhersehbar sind. Aber genau da müssen wir ansetzen», sagt Graf.
Tragfähige Strukturen
Für Petra Graf ist klar: «Geburten folgen keinem festen Zeitplan. Manchmal passiert stundenlang nichts – und dann geht plötzlich alles ganz schnell. Diese Unplanbarkeit gehört zu unserem Beruf. Umso wichtiger sind stabile, tragfähige Strukturen.»
Viele Hebammen entscheiden sich inzwischen für die Selbstständigkeit und begleiten Frauen im Wochenbett – ein Bereich, der zunehmend an Bedeutung gewinnt. Denn die Spitalverweildauer nach der Geburt hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich verkürzt. Im Kanton Zürich liegt sie nach einer Spontangeburt heute bei durchschnittlich 48 Stunden. Eine qualitativ hochwertige Betreuung zu Hause wird dadurch umso zentraler.
«Geburtshilfe sollte kein Luxus, sondern ein zentraler Bestandteil der medizinischen Grundversorgung sein.»
Problematisch: In diesem ambulanten Setting ist die Ausbildung von Hebammen bislang kaum geregelt. «In den meisten Kantonen erhalten weder die Hebammen, die Studierende ausbilden, eine angemessene Entschädigung, noch die Studierenden selbst einen Lohn», sagt Graf. «Hier braucht es dringend ein Umdenken. Wenn wir auf ‘ambulant vor stationär’ setzen, muss sich diese Realität auch in der Ausbildung abbilden – nur so lässt sich die Versorgungssicherheit künftig gewährleisten.»
Hebammengeleitete Geburten
Um die geburtshilfliche Versorgung langfristig zu sichern, braucht es aus Sicht des SHV auch alternative Modelle. Ein möglicher Ansatz: hebammengeleitete Geburten auf dem Spitalgelände – ohne permanente Arztpräsenz, aber mit einem medizinischen Team im Hintergrund.
«Solche Modelle sind kosteneffizient, erhöhen die Zufriedenheit der Frauen und Hebammen und entlasten das System», sagt Graf. In diesen Settings tragen Hebammen die Hauptverantwortung für die Geburt und ziehen ärztliche Unterstützung nur bei Bedarf hinzu. Auch autonome Geburtshäuser stellen für gesunde Schwangere eine sinnvolle Ergänzung dar.
Einige Spitäler in der Schweiz haben entsprechende Angebote bereits eingeführt. Im Kanton Zürich etwa sind sie gesetzlich verpflichtet, hebammengeleitete Geburten zu ermöglichen.
Die Umsetzung sei jedoch mit Aufwand verbunden: Es brauche klare Qualitätsstandards, abgestimmte Abläufe – und den Willen der Spitäler, solche Strukturen aufzubauen. Gleichzeitig sei es entscheidend, Frauen bereits in der Schwangerschaft eng zu begleiten.
«Die Geburtshilfe der Zukunft muss wohnortnah, interprofessionell und risikoadaptiert organisiert sein – im Idealfall mit Wahlfreiheit hinsichtlich dem Geburtsort.»
Aus Sicht des SHV zeigt sich an den aktuellen Entwicklungen, wie herausfordernd es geworden ist, eine flächendeckende geburtshilfliche Versorgung aufrechtzuerhalten. «Geburtshilfe sollte kein Luxus, sondern ein zentraler Bestandteil der medizinischen Grundversorgung sein», betont Petra Graf.
Dass Schwangere künftig längere Wege in Kauf nehmen müssen, ist aus ihrer Sicht keine tragfähige Perspektive. «Es geht nicht nur um Zahlen und Wirtschaftlichkeit, sondern auch um Vertrauen, Sicherheit und Zugang», so Graf.
Die Geburtshilfe der Zukunft müsse wohnortnah, interprofessionell und risikoadaptiert organisiert sein – im Idealfall mit Wahlfreiheit hinsichtlich dem Geburtsort. Und sie brauche einen klaren politischen Rahmen, um nachhaltig gesichert zu werden.